Beratungs- und Behandlungsprozess bei Sucht

Vorbemerkungen

Der Beratungs- und Behandlungsprozess verläuft nach folgender Struktur:

   1. Diagnose
   2. Motivationsphase
         1. Wunsch, etwas zu verändern
         2. Hoffnung, das dies auch gelingt, der Glaube an die Selbstwirksamkeit
   3. Bewusstmachen und Verankern von Ressourcen
   4. Veränderung
   5. Verankerung der Veränderung

Die Vorbereitungen

Kommen die Betroffenen in die Suchtambulanz, dann durchlaufen sie eine Motivations- und Informationsphase. Deren Ziel ist die Abstinenz. Betroffene werden nur abstinent bleiben, wenn sie

 

  •  Die Diagnose glauben,
  •  Für den Verzicht auf Suchtmittelkonsum einen Ersatz bekommen,
  •  Für ihr eigenes Verständnis ihrer Suchterkrankung eine sinnstiftende Erklärung entwickeln
  •  Mittelfristig den Konsumverzicht nicht als Verlust sondern als Gewinn betrachten.
     

An Stelle des Suchtmittelkonsums tritt die Beziehung zwischen Berater und Betroffenem. es gilt, zuzuhören und die Menschen mit Respekt vor ihrem Schicksal und ihren, wenn auch teilweise misslungenen Lösungsversuchen einen Raum der bewertungsfreien Enticklung zu bieten.

Dazu eignet sich die psychodramatische Methode des Doppelns

Moreno hat die Technik des Doppelns aus seinen Beobachtungen und Studien der frühen Mutter-Kind Beziehung entwickelt. Es bedeutet nichts anderes, als in der Begegnung an der Grenze der Ich-Du-Differenzierung als Berater in die Haut des Patienten zu schlüpfen, die Welt und seine Einschätzung davon mit seinen Augen zu sehen, mit seiner Haut zu fühlen, ohne dabei zu werden wie er. Der Patient oder die Patientin macht dabei die Erfahrung, in den eigenen Bedürfnissen von anderen Menschen erfühlt werden zu können.(Leutz Grete, das klasische Psychodrama nach J.L.Moreno, 1974, Seite 45)

Als Berater beginnen wir das Selbstkonzept und die Weltsicht der Betroffenen zu verstehen. Der Erfolg des Doppelns beruht dabei auf der Unvoreingenommenheit und Einfühlung des Beraters oder der Beraterin. Moralisierende oder wertende Haltungen sind dabei schädlich.

Der Lebenslauf wird erhoben und die Suchtkarriere exploriert. Häufig stellen wir in dieser Phase schon ein Soziales Atom.

Das Soziale Atom ist das sozioemotionale System von Beziehungen zwischen Menschen, in dem sich die individuelle Persönlichkeit entwickelt und mit der ihr gesamtes Lebensschicksal verknüpft ist. Dieses System umfasst den Personenkreis, mit dem ein Individuum in einer bestimmten Lebensphase in emotionalem Austausch steht oder stand und dem ein Individuum so eng verbunden ist wie mit seinem Körper, so dass es ohne ihn gar nicht existieren könnte. Jeder Mensch braucht lebensnotwendig andere Menschen und andere brauchen ihn." (zitiert nach Zeintlinger, 1996, Seite131)


Dazu benützen wir im Einzelsetting einen Sandkasten und Tierfiguren.

Das Soziale Atom ist nach Moreno die kleinste, notwendige soziale Einheit, in der das Individuum aufgehoben sein muss, um existenzfähig zu sein. Es besteht aus Repräsentanten von Personen ( aber auch Tiere, Dingen und Ereignissen ), mit denen das Kernindividuum mehr oder weniger viel zu tun hat. Es müssen nicht reale Personen ( Tiere, Dinge, Ereignisse) sein, es kann sich auch um Mythen von Personen handeln.

Das Soziale Atom kann aber mit verschiedenen Hilfsmitteln aufgebaut werden, z.B:

    * Soziales Atom mit Münzen: Für jede Bezugsperson wird eine Münze gewählt ( in der Münzenwahl kann sich der emotionale Wert niederschlagen).
    * Auch Schuhe eignen sich usw. Der Phantasie kann freien Lauf gelassen werden.

(Zeintlinger, 1996, Seite 78)


Bei dem Sozialen Atom mit Tieren kann nicht nur die Position der Tiere sondern auch deren projizierter Charakter bzw. deren Eigenschaften und Lebensumfeld mit dem Patienten reflektiert werden. (Z.B. wenn er für alle Personen exotische Raubtiere wählt, nur für sich selbst ein Schaf.)

In der Regel wird spätestens hier die Funktion und die Rolle des Suchtmittelkonsums im Rahmen der Selbstmedikation des Betroffenen diagnostisch deutlich.

Mit beginnender Abstinenz klärt sich der Blick der Betroffenen in ihre Realität. Der Nebel vor ihrem inneren Auge lichtet sich. Diese Phase kann sehr destabilisierend und schambesetzt sein. Wichtig ist daher, dass die therapeutische Beziehung dicht und tragfähig ist.

Nun werden Veränderungswünsche formuliert. Diese münden in die Bewerbung für die Behandlung. Jede Kandidatin und jeder Kandidat schreibt ihre Bewerbung, in der sie ihre Motivation darlegen.

In der Regel sind inzwischen seit der Kontaktaufnahme mehrere Wochen vergangen, so dass auch getestet werden konnte, ob die Abstinenz im ambulanten Setting gehalten werden kann. Außerdem fanden mehrere Gespräche mit den Familienangehörigen, vor allem mit den Ehepartnern statt, um zu klären, inwieweit eine Beteiligung an der Behandlung möglich und wünschenswert ist.

Auch hier kommen schon psychodramatische Techniken zum Einsatz.

In dieser Phase ist es hilfreich, nicht nur über die Defizite zu sprechen, sondern sich auch die Ressourcen, die für eine Behandlung förderlich sind, zu betrachten. Natürlich ist es ermutigend, wenn der Patient oder die Patientin in der ersten Abstinenzphase schon Erfolge in seinen Beziehungen erleben kann.

Häufig benutzen wir dazu die Methode des kulturellen Atoms. Während im sozialen Atom, wie oben beschrieben, die realen Beziehungen im sozialen Umfeld des Betroffenen abgebildet werden, geht es im kulturellen Atom um die Innenwelten des Betroffenen, um seine Rollencluster. Auf der Bühne besetzt der Patient seine Rollen. Z.B. der Patient als Vater, der Patient als Arbeitnehmer, als Sohn, als Nachbar, als Konsument, als Mensch mit Sehnsüchten, als Partner, als...

Die unterschiedlichen Rollen in seiner Rollenkonsverve können dabei im Konflikt zueinander stehen. Und in diesem kulturellen Atom kann dann auch die Rolle des Suchtmittels besetzt werden, so dass seine Funktion als sichtbar wird.
 

  "Doch weil der Himmel gütig ist

   kann einem selbst der größte Mist

   kann einem selbst die größte Pein

   im Nachhinein ganz nützlich sein."
 
                         Konstantin Wecker

Die Behandlung

Die Behandlung findet in der Regel in einer geschlossenen Gruppe mit 10 bis 12 Teilnehmerinnen und Teilnehmern statt. Sie setzt sich zusammen aus Suchtmittelabhängigen, eventuell auch Spielsüchtigen.

Die Gruppe dauert 6 Monate und trifft sich wöchentlich 2 Stunden. 3 Sitzungen sind der Entspannung und Körpererfahrung vorbehalten.

Zusätzlich findet ein Erlebnistag in der Natur und ein Partnerseminar statt.  Der Gruppenzyklus unterteilt sich in vier Phasen:

   1. Kennenlernen und Anwärmung
   2. Gruppenfindung und- bildung
   3. Arbeitsphase
   4. Bilanz und Abschied

Ich möchte mich im weiteren auf einzelne Fallbeispiele beschränken und dabei den Fokus auf die Schritte in der Arbeitsphase legen.

 Frau B:

Sie kam auf Anraten des Hausarztes mit ihrem alkoholkranken Mann in die Beratungsstelle. Sie war zu diesem Zeitpunkt 40 Jahre alt und Mutter von drei Söhnen im Alter von 16,15 und 11.

Die beiden älteren waren erheblich alkoholgefährdet, der älteste war wiederholt mit Diebstahlsdelikten straffällig geworden. Sie war berufstätig als Reinemachfrau, ihr Mann als Zivilangestellter bei der Bundeswehr.

Frau B, selbst nur ca.150 groß, wirkte äußerlich adrett, immer gut gekleidet und dezent geschminkt.

Sie stammte aus einem bäuerlichen Elternhaus, in dem die Mutter sehr dominant war. Sie hatte mehrere ältere Geschwister und einen jüngeren Bruder. Als Fabrikarbeiterin ohne Ausbildung lernte sie ihren Mann kennen, er war ihre erste Liebe, sie heirateten, als sie schwanger geworden war. In ihrem Wesen war Frau B. depressiv, geprägt durch den Alkoholismus ihres Mannes und ihres Vaters. Die Abhängigkeit ihres Vaters konnte sie erst im Laufe der Therapie erkennen und innerlich zulassen.


Frau H.:

Auch sie kam als Angehörige ihres alkoholkranken Mannes in die Therapie. Dieser entschloss sich im Verlauf der Motivationsgruppe zu einer stat. Therapie, sie selbst entschied sich für die ambulante Gruppe. Mit 58 Jahren war sie die Gruppen älteste, Mutter von zwei Söhnen und einer Tochter, die alle schon erwachsen sind. Sie stammte ebenfalls aus einem bäuerlichen Elternhaus, das sehr kinderreich war. Sie war sehr verschüchtert, depressiv veranlagt, ihrem Mann fühlte sie sich sehr verpflichtet.


Herr B:

Herr B ist Alkoholiker. Ich lernte ihn auf der Entgiftungsstation des Kreiskrankenhauses kennen, wo er mich von sich aus ansprach. Ich lud ihn in die Beratungsstelle ein, was er auch tatsächlich annahm. Seine Frau und er betreiben als kinderloses Ehepaar eine große Landwirtschaft, sein Vater lebt mit im Haus und wird von der Frau versorgt.

        

1.Sitzung

Die erste Sitzung dient dazu, das äußere Setting der Behandlung darzustellen und von jedem/r etwas zu der Behandlungsmotivation zu hören.

In dieser Phase kommt es darauf an, die Mitglieder zu stützen und zu ermutigen, sich zu zeigen. Die Methode dazu ist das Doppeln.

 
Deshalb wählte ich an diesem Abend das Partnerinterview, in dem sich Paare bilden, die sich gegenseitig interviewen und dann der Gruppe in der Rolle ihres jeweiligen Gesprächspartners berichten.

Diese Methode reduziert die Angst vor dem `sich Anvertrauen' auf die Begegnung mit einer Person, vermittelt den Eindruck, verstanden worden zu sein, wodurch Solidarität entsteht. Außerdem üben die Teilnehmer das Doppeln auf sehr spielerische Weise.

Frau B fand eine ungefähr gleichaltrige Partnerin, die dann im Doppeln vor allem davon berichtete, dass sie sehr unter der Verschlossenheit des Mannes, der ja auch in der Gruppe sitze, leide.

Nach einer anfänglichen Euphorie, die mit der beginnenden Abstinenz des Mannes begonnen habe, sei nun ein noch schwierigerer ehelicher Alltag eingekehrt.

 

Frau H fand ebenfalls ein Doppel in ihrem Alter. Diese erzählte nach dem Interview in der Rolle von Frau H. von dem Gefühl der Überforderung. Der Mann sei ja wegen seiner Sucht in stat. Therapie, er habe es wieder besser erwischt als sie, sie müsse nun mit der Berufstätigkeit, dem Haushalt und den Ansprüchen von Kindern und
Verwandtschaft zurechtkommen.


Herr B suchte sich einen Mann, der dann an seiner Statt ausführte: Er habe noch nicht verstanden, warum er habe trinken müssen. Das einzige, was er sehe, sei seine Geselligkeit, da habe er schon das Gefühl gehabt, mitmachen zu müssen.


2.Sitzung

An dieser Stelle des Prozesses war mir wichtig, nach der Begrüßung und noch recht oberflächlichen Begegnung in der ersten Runde eine Art gemeinsamen Aufbruch zu zelebrieren, auch mit den Hintergedanken,

 a. die spontane Spiellust weiter zu fördern,

 b. soziometrische Daten zu gewinnen und

 c. am Ende des Gruppenprozesses in ähnlicher Weise "anzukommen"  und dann Anfang und Ende gegenüber zu stellen.


Nach einer kurzen, verbalen Einleitung erklärte ich also der Gruppe folgendes:

"Unser Gruppenprozess steht am Anfang, wir begeben uns auf eine halbjährige Reise, auf der wir viel erleben können.  Um diese Situation wirklich zu erleben, schlage ich vor, einen  Bahnhof einzurichten. Auf diesem Bahnhof befindet sich ein  Zug, unser Gruppenzug, in den wir einsteigen. Jeder kann seine Rolle wählen, kann sich seinen Platz suchen. Wohin der Zug fährt,  wird sich ergeben."

Die Gruppe nahm die Einführung willig auf, schon während der Einführung begannen einzelne spontan mit ihren Nachbarn zu spielen.

Wir grenzten den Bahnsteig ab und bauten den Zug mit Lokomotive und einem Wagon mit drei Abteilen auf. Klar war, dass sich hinter diesem Wagon noch mehrere befinden können.
Ich spiele den Schaffner, der die Reisenden auf dem Bahnsteig begrüßt, ihnen, wenn nötig, in den Zug hilft und dann, wenn alle eingestiegen sind, den Zug abfahren und zur Unterbrechung der Fahrt für den heutigen Tag ihn auch anhalten lässt, sich aber sonst zurückhält.

Dazu ein Zitat von Ploeger über die Rolle des Therapeuten: "Über die Stellung des Therapeuten in der soziodynamischen  Grundformel sprachen wir oben und sahen, dass er sinnvollerweise  nur die Stellung des Beta, des >sachverständigen Aktivisten<, innehaben kann, wenn er effektiv arbeiten will. Aus dieser  Position ist schon ersichtlich, dass er neutral außerhalb der  Interaktionsdynamik der Gruppe steht und dass er sich mit seinen Neigungen und Impulsen zurückhalten muß, keine eigenen Interaktionsangebote machen darf, d.h. dass er seine Aktion gegenüber den Gruppenmitgliedern allein auf technische Interventionen beschränken muss." (Ploeger,1983,S.92)

Frau B wählte ohne lange nachzudenken die Rolle eines "billigen, schäbigen Koffers aus dem Sonderangebot, den jemand im Gepäcknetz vergessen hat und der sich freut, mitfahren zu dürfen."

Ihr Mann rutscht aus seiner von ihm gewählten Rolle als Speisewagenkellner in die eines Animateurs für den Tanzwagen.

Sie schaut als "Koffer" widerspruchslos zu, wie er mit allen anderen Frauen im Zug zu flirten beginnt.

Frau H. ging als sehr strenge Fahrkartenkontrolleurin ins Spiel, erntete entsprechend unwillige und deutliche Rückmeldungen, was sie veranlasste, sich an mich zu wenden. Sie wollte wissen, ob sie ihre Rolle verändern dürfe, was ich bejahte. Daraufhin spielte sie eine sehr ängstliche, alte Frau, die durch ihre hilflose Art bei allen Hilfsbereitschaft auslöste.

Herr B ist ein sehr unwilliger Fahrgast, der seiner Frau zuliebe eine Italienreise macht. Dabei schimpft er über Ausländer, will Gas geben. Mit dem Ehemann von Frau B gibt es kurz starke Spannungen, weil dieser mit Frau B flirtet.

Auswertung:

In der Auswertung unseres Stegreifspieles war mir wichtig, mit dem jeweiligen Gruppenmitglied seine Rolle anzuschauen, Stimmungen zu benennen und nach Analogien im Leben des einzelnen zu fragen.

"Ein Gruppenspiel kann wahlweise auf verschiedene Arten  aufgearbeitet werden:

 - Eine personenbezogene Aufarbeitung konzentriert sich darauf, für jedes einzelne Gruppenmitglied den roten Faden im  Gruppenprozess herauszuarbeiten (ein `roter Faden ergibt sich durch Klassifikation von auffälligen Spiel- und Verhaltensweisen zu einem bestimmten Problem oder Thema, mit dem  ein Gruppenmitglied zu dieser Psychodramasitzung  gekommen ist), und jedem ein Feedback zu seinem Verhalten zu geben.

 - ..." (Zeintlinger,1981,S.111)

Frau B erschrickt über ihre Rolle und die Ohnmacht, die sie damit verbindet. Sie weint und meint: "Er kann genießen, ich nicht."

Frau H kennt beide Rollen (sie hat ja gewechselt) gut, ich frage, ob sie eine Gemeinsamkeit in beiden finden kann, nach kurzem Überlegen bejaht sie und sagt:" In beiden Rollen darf ich nicht sein, wie ich gern möchte."

Herr B kann seinen Unmut nicht verstehen, kennt sich eher als geselligen Typ, ist verunsichert und ruhig.

Während ich bei Frau B in etwa auf einen Entwicklungsprozess eingehen möchte, werde ich bei Frau H , Herrn B und Frau Ö nur eine Sitzung herausgreifen:


Frau B


Am 3.Gruppenabend will Frau B von ihrem Mann, dass er einen Strafzettel bezahlt, den sie erhalten hat, mit der Begründung: "Ich habe mich genug geopfert, nun bist Du dran." Es kommt zu einer heißen Diskussion in der Gruppe über die Berechtigung der Forderung von Frau B.

In dieser Phase läuft die Auseinandersetzung in dem Klima von Vorwurf, Schuldzuweisung ,Bestrafung und Rache. Mein Ziel ist es, zur eigenen Rollenschau zu finden und damit im gegenseitigen Verstehen erstmal soetwas wie einen Waffenstillstand zu bekommen. Deshalb polarisiere ich die Situation absichtlich, indem ich die Gruppe auffordere, sich hinter denjenigen zu stellen, den sie unterstützen. Fast alle postieren sich hinter HerrnB. Ich lasse jeden einen Satz sagen, der beginnt mit "Ich stehe hier,..."

Frau B sieht dies ,bricht zusammen und weint. Während ich sie doppele, kreist sie um die Frage: Wieviel bin ich wert, warum opfere ich mich immer wieder?" Dabei beschreibt sie Situationen aus ihrer ehelichen Geschichte, wodurch sie wesentlich weicher wird und von den anderen sehr gut verstanden wird. Sie selbst nimmt nun aber nach dem Motto:" Ich bin ja selbst schuld", die Verantwortung als Schuldzuweisung an sich. Ich frage sie, ob dies bedeute, sie könne nichts daran ändern. Sie antwortet: "Ich weiß nicht, ob ich das darf." "Wer kann Ihnen dies verbieten oder erlauben?" "Niemand- nur ich selbst."

Damit nimmt sie die Verantwortung an und macht den Weg frei, in dieses "nur ich selbst" hinabzusteigen.

Sharing:  Das Sharing ist ein wichtiger Teil bzw. eine besonders wichtige Funktion der Abschlussphase des Psychodramas. Das Wort ist nicht exakt aus dem Englischen zu übersetzen. Wir verstehen darunter die unmittelbare postpsychodramatische Anteilnahme am Erleben des Protagonisten, wie sie beispielsweise durch Identifikationen ausgedrückt werden kann, die beim Zuschauer auf dem Boden entsprechender Erlebnisse in der eigenen Lebensgeschichte zustande gekommen sind. Sie werden im Sharing meistens spontan mitgeteilt. Hat der Protagonist bisher sein leiden als etwas Einmaliges aufgefasst,so bekommt es für ihn durch das Sharing allgemein menschliche Züge. Protagonist und Zuschauer erleben eine tiefgehende Verbindung.... (Leutz Gretel, 1974, Seite 102)

In der Nachbesprechung bekommt sie gute Sharings von den Frauen, die vor allem das Gefühl, sich opfern zu müssen, da die Ehe ja eine unausweichliche Gemeinschaft ist, aufgreifen.

Hier äußert Frau H, auf die ich, wie oben erwähnt, noch zurückkommen werde, den Satz: Jeder bekommt das, was er verdient."

In den nächsten Sitzungen geht es ihr sichtlich schlecht, sie wehrt aber Versuche, sich ihr anzunähern, hartnäckig ab.

Am sechsten Abend streiten die Eheleute, wer wohl schuld ist in dem Alkoholmissbrauch der beiden älteren Söhne. Dabei ist es wieder Frau B, die sich heftig erregt und ihre Schuldvorwürfe mit sehr anschaulichen Beispielen unterlegt.

Während ich zuhöre, wird mir deutlich, dass Frau B ein großes Bedürfnis nach Kontrolle haben muss. Ich fordere sie auf, ihre Familie in einer typischen Situation darzustellen.

Sie setzt sich und ihre Familie an den Esstisch, der Kreis ist geschlossen. Sie geht in den Rollentausch mit ihren Antagonisten und erkennt, wie dicht die Atmosphäre ist. Vor allem spürt sie die Klammer der Schuld, die alle in der Familie zusammenzwingt. Sie sagt, Ich weiß als einzige, wie die richtige Lebensbewältigung funktioniert und muss deshalb als Mutter die Verantwortung dafür übernehmen, dass meine Familienmitglieder nicht scheitern. Wenn mir das nicht gelingt, bin ich selbst schuld." Sie erkennt, dass sie gegen die Angst, als Mutter zu versagen, die absolute Kontrolle versucht.

Daraufhin öffnet sie den Kreis, alle Antagonisten atmen spontan auf.

In der Nachbesprechung wirkt sie sehr entspannt und gelöst, formuliert für sich die Erfahrung, Befreiung erlebt zu haben, was von den Antagonisten heftig bestätigt wird.

Auf ihrem Weg, sich von der Überkontrolle zu verabschieden, sich und ihrer Familie Autonomie zuzugestehen und daraus Freiraum und Kraft zu finden, ihr eigenes Leben in die Hand zu nehmen, sich ihrer eignen Verantwortung für sich selbst gewahr zu werden, ist sie in diesem Spiel deutlich vorangekommen. Prompt beschäftigt sie sich in den darauffolgenden Wochen damit, außerhalb der Familie eigene, neue Erlebnisfelder aufzubauen.

Ihr Mann unterstützt sie darin, was sie mehr in Rage bringt als dass es ihr hilft. Es passt nicht in ihr Rollenbild, dass sie von ihm nicht nur die Erlaubnis, sondern sogar die Unterstützung erfährt, gegen ihre Schuldgefühle sich Freiräume zu erarbeiten.

Sie ist misstrauisch, unterstellt ihm Absichten, z.B. sie los haben zu wollen:" Wenn ich mich verselbständige, liebst Du mich dann noch?" Hier geht es also nicht mehr nur um Schuldgefühle, sondern schon um Verlustängste. Es wird ihr zunehmend deutlich, dass durch das Übernehmen der Verantwortung für das eigene Tun der Blick sich von dem So-Sein ihres Mannes abwendet hin zu ihren eigenen inneren Schranken.

Es kommt immer wieder zu Krisengesprächen in der Gruppe, in denen sie sich mehr und mehr den Ursachen ihres Gehemmtseins annähert. In einem Rollentausch mit ihrem ältesten Sohn begegnet sie dem
"Schweigen meiner Mutter".

In der darauffolgenden Sitzung, der zehnten, sagt sie: Ein Kartenhaus ist zusammengebrochen, ich träume von Tod. Auf der anderen Seite kann ich endlich trennen zwischen meinem Verhalten, das kritisiert wird, und mir. Ich wünsche mir Ruhe und Besinnung."

In der elften Sitzung kommt es zu einem Spiel, in dem jedes Gruppenmitglied Frau E. ein Geschenk machen kann. Frau B. schenkt ihr einen Schuhkarton voller Leid. Sie sagt dazu: Wenn der Deckel weg ist, kommt das Glück."

In der Nachbesprechung lenke ich die Aufmerksamkeit der Gruppe auf den Gedanken, dass wir häufig das verschenken, was wir selbst gern hätten, aber uns verbieten. Frau B weint und bejaht sofort.

(Ich erinnere mich an den Koffer)

Nun beginnt Frau B. das Buch "Wenn Frauen zu sehr lieben", das sie schon seit längerer Zeit gekauft hat, zu lesen. Sie ist erschüttert über die Analogien, die sich ihr auftun. Sie beginnt, sich mit ihrer Mutter auseinander zusetzen.

In den darauffolgenden Sitzungen bringt Frau B. immer wieder das Thema Sexualität ein. Sie wirft dabei ihrem Mann sehr kränkende Erfahrungen an den Kopf, wobei mein Vorgehen sich darauf beschränkt, durch Doppeln und Spiegeln das Erkennen der jeweils eigenen Anteile zu ermöglichen.

Spiegeln: Die Spiegeltechnik entspricht jener Phase der kindlichen Entwicklung, die Moreno gelegentlich auch das `Stadium der `Ich-Erkenntnis` nennt... Das Kind hebt sich von den Menschen und Gegenständen seiner Umwelt ab und entwickelt eine Vorstellung von sich selbst. ...

Bei der Spiegeltechnik wird mit keinem gegenständlichen Spiegel gearbeitet, sondern mit einem Co-Therapeuten oder gewandten Gruppenteilnehmern. Nach eingehender Beobachtung stellt er den Klienten oder Patienten sozusagen spiegelbildlich auf der Bühne dar. Der Patient sieht als Zuschauer im Spiel des Co-Therapeuten sich selbst , das Ausdrucksgebaren seiner Psyche, wie im Spiegel. Leutz Gretel, 1974, Seite 46f


Ein Beispiel: Ihr Mann kam eines Abends betrunken nach Hause und brachte Kumpanen mit. Frau B lag schon im Bett. Plötzlich stand ihr Mann mit seinen Freunden neben ihr. Es kam zu Sexualkontakten zwischen den Freunden des Mannes und ihr, wobei ihr Mann zusah.

Diese Situation wirft sie ihm an den Kopf. Ich lasse sie sich selbst wie in einem Spiegel batrachten. Sie beschreibt, wie sie ihr Sexualverhalten wahrnimmt, benennt dieses sogar als teilweise prostituierend und kommt so auf das Gefühl der Würde und Achtung sich selbst gegenüber und erkennt, dass sie eben, weil sie sich immer unwert und schuldig fühlt, selbst lähmt.

Ich habe das Gefühl, ja, sie kommt ihrer Rolle als Frau näher, allerdings warte ich auf eine Auseinandersetzung mit der wertgebenden Instanz, den Eltern.

In der vorletzten Sitzung geht es Frau B sehr schlecht. Sie hat eine  Auseinandersetzung mit ihrer Mutter hinter sich, fühlt sich unwert und schuldig. Ich erinnere sie an den Koffer und schlage ihr vor, dort anzuknüpfen. Sie stimmt ein

1.Szene:

und stellt sich selbst als schäbigen Koffer in die Ecke. Wir öffnen ihn ganz behutsam, wobei Frau B heftig weint; es kommt folgende Szene zum Vorschein, die wir dann auch spielen:

2.Szene:

Die Mutter muss aus dem Haus zur Arbeit gehen. Sie gebietet der Tochter, auf den kleineren Bruder aufzupassen und eine ganze Latte von Hausarbeiten zu erledigen. Die Tochter ist zu diesem Zeitpunkt ca 9 Jahre alt, der Bruder ca 1.

Frau B hat den starken Drang, ihrer Mutter zu widersprechen, wird aber von dieser nur mit dem Satz abgespeist." Du bist nichts."

Als die Mutter fort ist, bekommt sie Mordgelüste dem Bruder gegenüber, geht mit ihm spazieren, der Kinderwagen fällt um, Frau B fühlt sich schuldig, hat das Gefühl, die Zuweisung ihrer Mutter. Du bist nichts." habe sich bewahrheitet.

Im Rollentausch mit dem Bruder sagt sie: Die hat eine Stinkwut, bei mir traut sie sich, bei der Mama nicht." Wieder in ihrer Rolle hört sie diesen Satz. Nun kämpft sie mit sich, ob sie es wagen darf, ihrer Mutter zu widersprechen. Dabei schwankt sie zwischen den Haltungen: Ich bin überfordert, will mich wehren." und "Ich bin selbst schuld, ich muss besser werden. Sie wählt sich ein stützendes Doppel aus der Gruppe und wartet die Heimkehr der Mutter ab.

3.Szene:

Ich fordere Frau B auf, sich vorzustellen, ihre Mutter käme nach

Hause und sie habe sich vorgenommen, mit ihr ins Gespräch zu kommen.

Zuerst verläuft die Szene so, wie sie wohl immer gelaufen ist. Die Mutter ist mit dem Arbeitsergebnis nicht zufrieden und will
beginnen, die Tochter zu züchtigen. Nun fällt diese ihr aber in den Arm, hält sie fest und läst ihre Gefühle aus sich herausbrechen.

Im Rollentausch verändert Frau B die Rolle ihrer Mutter, sie wird weicher, beginnt, "ihr eisiges Schweigen" zu brechen und über ihre eignen Gefühle zu sprechen. Frau B erkennt, dass ihre Mutter genauso hilflos ist wie sie. Beide nehmen sich schließlich unter Tränen in die Arme.

4.Szene:

Bevor wir das Spiel beenden, schicke ich beide zum Koffer, der ja noch immer in der Ecke steht. Sie entscheiden, dass er nicht
schäbig ist, beratschlagen über seinen Zustand, beide sind sich klar darüber, dass er noch nicht leer ist, wobei Frau B wieder zu weinen beginnt. Sie vereinbaren, sich miteinander den Inhalt anzuschauen.

Auswertung:

Frau B, die sehr erschöpft ist, bekommt schöne, inhaltsreiche Sharings aus der Gruppe, die ihr helfen, in die Gemeinschaft zurückzufinden.

Dabei erzählen vor allem die Frauen von Erlebnissen, in denen sie sich nicht zu wehren getraut haben, weil sie damit gegen ihr eigenes Rollenverständnis verstoßen hätten.

Im Rollenfeedback tritt die Ähnlichkeit der beiden Frauen noch einmal zu Tage, die Antagonistin-Mutter schildert ihr Erleben des Überfordertseins, des sich Nichtig-Fühlens und der Versagensängste.

Ich bin froh darüber, dass es Frau B gelungen ist, diese äußerst schwierige und chronisch krankende Beziehung in dieser Form anzuschauen.

Allerdings denke ich mir, dass die emotionale Betroffenheit als Koffer in keinem Verhältnis steht zu der gezeigten Situation.

Deshalb ich bitte Frau B ins Einzelgespräch.Dort erzählt sie mir eine sexuelle Missbrauchserfahrung, von der ihre Mutter wusste, aber nichts dagegen unternahm. In diesem Gespräch gebe ich ihr die Möglichkeit, in einem Dialog, in dem ich die Rolle der Mutter übernehme, mit dieser ins Gespräch zu kommen. Wir setzen praktisch den Prozess, der in der letzten Gruppe begonnen hat, fort.

Diese Geschichte erzählt sie beim nächsten Gruppenabend.

Ihr Mann ist sehr betroffen, er wusste ja auch nichts davon.


In der letzten Sitzung wirken beide sehr gelassen und ruhig. Sie schildern eine harmonische Woche, nachdem sie zum ersten Mal seit langer Zeit befriedigenden Sexualkontakt hatten.

Zusammenfassend kann folgendes gesagt werden:

Im ersten Schritt war wichtig, dass der Ehemann von Frau B abstinent wird. Danach wurden seine Rückmeldungen ernstgenommen, er wurde als streitbarer Partner akzeptiert.

Dadurch konnten die Schuldzuweisungen auf ihre Anteile hin betrachtet und aufgedröselt werden mit dem Erfolg, dass beide begannen, Verantwortung für ihr Tun, für ihr Verharren und ihr Verändern zu übernehmen. Im dritten Schritt begann dann die Auseinandersetzung mit dem eigenen "Beschränktsein", sowohl im Erkennen als auch im Handeln.                       

Frau H.

Frau H., Partnerin eines Alkoholikers, war auch Mitglied der  Gruppe, während sich ihr Mann in einer stat. Langzeittherapie befand. Sie wirkte sehr ängstlich, schüchtern und still. Wie bereits skizziert, stolperte sie in einer Sitzung über den Satz: Jeder bekommt
das, was er verdient."

Auf meine Nachfrage schildert Frau H. einen Traum, indem sie mit ihrer Mutter ringt. Wir spielen diesen Traum. Plötzlich sagt Frau H: Du bist gar nicht meine Mutter." Dabei erschrickt sie sehr stark und fügt hinzu: Das darf ich aber nicht sagen." Starke Schuldgefühle plagen sie.

Über Nachfragen bei Verwandten während der Woche bis zur nächsten Sitzung stellt sich heraus, dass ihre leibliche Mutter bei der Geburt von Frau H. starb und der Vater deren Zwillingsschwester heiratete.

Über diese Offenbarung bekam Frau H. noch mehr Schuldgefühle, sie zweifelte ihre Lebensberechtigung und ihren Selbstwert total an, fühlte sich schuldig am Tod der Mutter.

In dieser Situation machte ich ihr den Vorschlag, in einer Zwischenwelt der Mutter zu begegnen. Frau H. ging sofort darauf ein. Sie wählte die Mitspielerin für die Rolle der Mutter und führte sie in einem Rollentausch ein.

In dem Dialog, der sich zwischen den beiden Frauen entspann (Frau H. besetzte im Tausch beide Rollen), spürte Frau H., wie müde und lebensunlustig ihre Mutter war. Ich könnte losschreien, wenn ich daran denke, meine neugeborene Tochter alleine zu l
assen, will aber trotzdem gehen, ich halte die Schmerzen nicht mehr aus." Sie konnte sich selbst von dem Vorwurf, die Todesursache ihrer Mutter gewesen zu sein, befreien. Es kam zu einer sehr innigen Aussöhnung zwischen beiden.

In der nächsten Sitzung schildert Frau H. einen Traum, in dem sie am Waldrand steht und auf eine Lichtung hinaustreten will, sich aber nicht traut. Wir spielen diese Szene, ihre tote Mutter erscheint als Schutzengel und macht ihr Mut, gegen das Gefühl, es nicht verdient zu haben, sich auf der Lichtung zu zeigen, was Frau H dann auch tut. Die Gruppe applaudiert spontan.


Im weiteren Verlauf der Behandlung konnte Frau H. ihren Mann konfrontieren, bis sie ihm eines Tages vorhielt, er habe ja gleichzeitig mit ihr eine andere Frau geschwängert, was sie sehr gekränkt hatte. Eigentlich habe sie ihn nur aus einem Gefühl der Ohnmacht, Wertlosigkeit und Abhängigkeit geheiratet. Auch hier kam es zu einer sehr innigen Aussöhnung, die allerdings über mehrere Sitzungen ging. Dabei half Herrn H. immer wieder, im Rollentausch mit seiner Frau zu erleben, dass sie diese  Geschichte zwar klären wollte, aber ohne über ihn zu siegen.

Herr B.

Herr B. ist alkoholkrank und kam mit seiner Frau in die Behandlung. Als kinderloses Ehepaar betreiben beide eine große Landwirtschaft. Sie leben mit seinem Vater auf einem Hof. Beide, Vater und Sohn sind von Beruf Zimmermann. Auch dieses Geschäft hat der Sohn zuerst mit dem Vater, und nun alleine ausgeübt
.

In einer psychodramatischen Sitzung, in der Beziehungen zu den Eltern  angesprochen wurden, fing Herr B. an zu weinen. Er formulierte massive Rachegefühle seinem Vater gegenüber. Im weiteren Verlauf zeigte uns Herr B. eine Situation, in der er einem Kunden versprach, am Samstag das Dach aufzurichten. Als der Kunde ihn in der Früh dieses Samstages abholen wollte, versperrte ihnen der Seniorchef den Weg und wies seinen Sohn an, die Feldarbeit aufzunehmen.
Dieser verständigte sich hinter dem Rücken seines Vaters nonverbal mit dem Kunden, ging zuerst auf`s Feld und dann heimlich auf die Baustelle. Aus dem Gefühl der Schuld trank er sehr viel. Der Vater bemerkte den Betrug und stellte den Sohn zur Rede.


An diesem Punkt forderte ich Herrn B. auf, uns ohne Worte seine Befindlichkeit auszudrücken. Er legte sich auf den Boden und erhöhte seinen Vater, indem er ihn auf einen Stuhl stellte.

Diese Position hielt er aber nur sehr kurz aus, er erhob sich und begann, eine Klärung herbeizuführen, an deren Ende er sogar "mit dem Segen" des Vaters auf die Baustelle zurückkehren konnte.

Dieses Erlebnis, das ja in Wahrheit nie stattgefunden hatte, beglückte Herrn B. so, dass er seinen Vater auf dem Weg, sich einer längst überfälligen Operation zu unterziehen, partnerschaftlich begleiten konnte und Wochen später meinte: Es ist Frieden eingekehrt."

"Wenn die Kette aus törichten, wehleidigen Ängsten sich löst und mich freigibt und das Herz nicht mit dem Geist im Streit liegt, dann wird mein Leben Frieden haben."

 (Johnsten, Manitu, aus Maria Otto (Hrsg): Worte wie Spuren, Weisheiten der Indianer, 5.Auflage, Verlag Herder Freiburg, 1985/1990, zitiert nach Kissinger, Erwin, Entwicklungen eines Spielers, Referatnachdruck des Caritasverbandes Stuttgart e.V.,1991)

Frau Ö.


In einem Wochenendseminar zum Thema "Schuld und Sucht" beginnen wir nach der Anwärmphase mit einer Entspannungsübung, in der jeder aufgefordert wird, uns die Figur oder Gestalt aus seinem Inneren zu zeigen, die ihm jetzt am meisten Spaß machen würde.

Alle Gruppenmitglieder haben dann die Möglichkeit, diese Rolle auf die Bühne zu bringen.

Frau Ö., Witwe eines Alkoholikers, selbst alkoholgefährdet und abstinent, Mutter von drei fast erwachsenen Kindern, zeigt uns die heilige Elisabeth. Diese ist die Namenspatronin von Frau Ö. Die Legende erzählt, dass sie die Herzogin auf einem Schloss war. Sie heimlich Brot aus den Schlossvorräten nahm, um es den Armen in der Umgebung ihres Schlosses zu verteilen.

Im weiteren Verlauf des Seminars bieten wir an, in diesen Rollen Menschen zu begegnen, denen diese Rollen bisher nicht zugemutet wurden. Frau Ö. bringt das Buch, in dem  die Legende der Hl. Elisabeth steht, mit und äußert den Wunsch, das sog. "Rosenwunder" zu spielen:


Elisabeth verläßt wieder einmal heimlich durch eine Seitenpforte das Schloss. Sie hat unter der Schürze einen ganzen Stapel Brot. Ihr Gatte, der Herzog Ludwig, kommt mit zwei Wächtern durch das Hauptportal über die Zugbrücke und versperrt ihr den Weg. Er will wissen, was sie unter dem Rock hat. Sie lüftet ihn, es kommt ein wunderbarer Strauß roter Rosen zum Vorschein.

Frau Ö. braucht viel Zuspruch aus der Gruppe, ihre Scham zu überwinden und das Spiel zu beginnen:


Sie wählt die Mitspieler für die Rollen der Wächter, als Ludwig nimmt sie einen gut aussehenden, jungen Mann, der Rest der Gruppe spielt die Armen.

Als das Überich mit Gott besetzt werden soll, biete ich ihr als Möglichkeit an, eine Kerze als Symbol der göttlichen Kraft zu benutzen, worauf sie gern eingeht. Gott als Person zu besetzen, hätte ihre religiösen Gefühle verletzt.

Frau Ö. führt alle Beteiligten durch einen Rollentausch in die Handlung ein. Als sie in der Position der göttlichen Kraft ist, meint sie: Das Rosenwunder darf nicht geschehen, die Elisabeth muss sich endlich gegen diesen despotischen Herrscher durchsetzen."

Als wir aber die Szene spielen, flirtet Frau Ö mit "Ludwig" so intensiv, dass dieser auf ihren Vorschlag, die Wachen wegzuschicken, eingeht. Sie legen sich ins Gebüsch und Frau Ö., eine eher farblose und unscheinbare Mittelfünfzigerin, öffnet ihren Rock und das Rosenwunder geschieht.

Daraufhin schreitet sie hocherhobenen Hauptes an der Seite ihres Mannes durch das Hauptportal.


Während des Spiels lasse ich sie immer wieder in die Rolle einer Armen schlüpfen. Trotz der moralischen Vorwürfe, die sie in diesem Rollentausch der Elisabeth macht, gelingt es ihr als Elisabeth, auf sich und ihre Bedürfnisse zu achten und sich als Frau zu rehabilitieren. Dabei muss sie sich ja gegen zwei Komplexe von Schuldgefühlen abgrenzen: Zum ersten soll sie die Armut des Dorfes sehen und in ihrer Hilfsbereitschaft dieser entsprechen (ihre Kinder), zum zweiten soll sie ihre Sexualität verneinen.(nach dem Tod ihres Gatten den Wunsch nach einem jüngeren Mann)

Beides gelingt ihr, dieses Spiel wirkt  wie ein Jungbrunnen auf Frau Ö. Sie äußert Bilder von "Wiedergeburt" und "Auferstehung".

Ergebnisse und Erfahrungen

Das Psychodrama hat sich in der Arbeit mit Suchtkranken und deren Angehörigen bewährt. Es ist eine hervorragende Methode, die Menschen ins Handeln zu bringen und ihnen die Möglichkeit zu geben,

    * sich außerhalb ihres intellektuellen Gebäudes zu erleben,
    * ihre Kreativität und Spontaneität zu fördern,
    * ihr Selbstkonzept zu inszenieren und zu verändern,
    * ihre Wirkweise auf die Welt und die sie umgebenden Beziehungen zu erleben und neu zu gestalten

1998 hat das Team der Psychosozialen Beratungsstelle - Fachambulanz für Suchtfragen  in Sigmaringen eine Katamnesestudie in Auftrag gegeben. Diese wurde von einem Praktikanten der Berufsakademie Villingen- Schwenningen durchgeführt und von einer Diplomandin in Psychologie der Universität Konstanz ausgewertet.

Es wurden 170 Patienten und Patientinnen der Suchtberatungsstelle angeschrieben, die ihre Therapie zwischen 1994 und 1998 beendet hatten. Davon nahmen 110 an der Katamnese teil, das entspricht einem Anteil von 64,7 %.

Diese Katamnese wurde im Rahmen einer Doktorarbeit an der Universität Klagenfurt verarbeitet und veröffentlicht. Unter folgendem Link kann diese von dieser Plattform heruntergeladen werden, sofern Sie registriert sind.

Waniczek, Sabine; Harter, Klaus-Ernst; Wieser, Michael (2005):Evaluation von Psychodramatherapie bei Abhängigkeitsstörungen:
Waniczek_PhD_Thesis

Quelle:
https://elearning.uni-klu.ac.at/moodle/file.php/655/4.Curative_factors/T... (Stand: 04.01.2011)

Literaturliste:

   1. Moreno, Jacob,L.; Gruppenpsychotherapie und Psychodrama, Georg Thieme Verlag Stuttgart, 1959
   2. Gretel Leutz; Psychodrama, Springer-Verlag,Berlin,1974
   3. Zeintlinger-Hochreiter, Karoline, Kompendium der Psychodrama-Therapie, InScenario Verlag Köln, 1996