Das Verständnis von Sucht
Sucht ist ein Phänomen, das zu allen Zeiten in allen Kulturen vorkam und vorkommt. In den Zeiten vor der Entwicklung der Psychologie und der Psychotherapie wurde Sucht nicht als Krankheit, sondern als Ergebnis einer Charakterschwäche gesehen, die vom Betroffenen schuldhaft verursacht wurde. Heute verstehen wir Sucht oder Abhängigkeit als krankhafte Entwicklung im Wirkungsfeld von Betroffenen mit ihrer Geschichte, ihrem Beziehungsgeflecht und ihren aktuellen Lebensumständen. Dazu gehört auch die jeweilige kulturelle Umgebung und Sozialisation. Wir sehen das süchtige Verhalten als missglückten Selbstheilungsversuch der Betroffenen.
Indem sie Suchtmittel konsumieren und/oder Zustände des Berauscht seins herbeiführen, befreien sie sich für die Zeit der Wirkung aus der inneren Anspannung, aus dem Spagat zwischen Wollen und nicht Können, zwischen Müssen und Versagen, zwischen Wünschen und nicht Dürfen, zwischen Ersehnen und sich nicht Erlauben, oder wie es Moreno selbst formuliert, zwischen Mut und Angst. Wir nehmen an, dass in Folge angstauslösender, chronischer Beziehungsmuster bestimmtes Rollenverhalten zuerst von außen, dann aber auch internalisiert von innen negiert und ausgeblendet wird, um zu überleben. Typische betroffene Anteile sind Aggression, Lüsternheit oder Sexualität, Wut, Trauer, Angst, Erfahrungen mit Abschied oder Gefühle überhaupt. Diese Anteile brechen dann im Rauschzustand überbordend hervor und können wiederum zu massiven Verletzungen, Übergriffen und Chaoszuständen führen, was wiederum nur die Haltung bestärkt, sie noch mehr zu kontrollieren. Der Teufelskreis ist geschlossen.
Stellen wir uns vor, ein Kind begegnet zum ersten Mal einem Klavier. Es betätigt die Tasten, es erzeugt Laute und Geräusche, die uns Erwachsene dazu verleiten, dem Kind das Klavierspielen ganz zu verbieten oder ihm zu zeigen, wie es geht. Wir erläutern ihm die Regeln und üben mit ihm. Im Sinne Morenos entwickelt sich nun die Rollenkonserve.
Angenommen, wie benützen dabei nur die weißen Tasten. Irgendwann wird das Kind auch die schwarzen Tasten für die Molltöne, für die Zwischentöne benützen wollen. Nun kommt es darauf an, dass wir selbst als Vorbilder kompetent sind im Umgang mit diesen Tönen. Wenn nicht, werden wir dem Kind das Benützen der schwarzen Tasten vielleicht erschweren oder gar verunmöglichen, indem wir es negativ sanktionieren. Moral und Schuldgefühle halten Einzug, die Rollenkonserve erhält ihre innere Kontrollinstanz. Das Kind wächst heran und wird erwachsen. Es kommt in Lebenslagen, in denen es die Kompetenz im Umgang mit den Molltönen, den Zwischentönen des Lebens bräuchte. Diese Energien sind aber blockiert, die damit verbundenen Persönlichkeitsanteile sind ins innere Abseits geraten.
Nun gibt es Menschen, die spüren dies, können es aber aus eigener Kraft nicht ändern. Sie haben aber zumindest eine Erinnerung an die verlorengegangenen Anteile, ersehnen ihre Heilung und empfindet ihr Fehlen als Mangel.
Dann gibt es Menschen, die wissen ebenfalls um ihr inneres Sein, erlauben sich aber die Befreiung nicht, weil sie den Moralkodex der Verursachung übernommen haben, ja vielleicht sogar die verursachenden Beziehungspartner noch idealisieren.
Weiter gibt es Betroffene, die erinnern sich nicht einmal mehr, dass da mal was war. Ihre Verdrängung ist so perfekt, dass alle Spuren oder Fährten aus dem Gedächtnis gelöscht sind.
In all diesen Varianten kann Suchtmittelkonsum eine Pause im inneren Kampf, im inneren Psychodrama bedeuten.
Da wir in unserer Praxis auch intensiv mit Angehörigen arbeiten, möchte ich auch dazu einige Erläuterungen machen:
Ein häufig wiederkehrendes Beziehungsmuster in süchtigen Familien ist die Triade
Täter Opfer Retter
Aus der Sicht des Suchtmittelabhängigen sind oft andere die Täter (z.B. der Chef, das Wetter, der dumme Nachbar, die Eltern usw.), er ist das Opfer und das Suchtmittel der Retter.
Aus der Sicht der Angehörigen gibt es zwei Varianten:
- Der Suchtkranke ist das Opfer, das Suchtmittel bzw. die Clique, die Umstände, die „schlechte Kindheit“ etc. die Täter und der oder die Angehörige die Retter.
- Der Suchtkranke ist der Täter, die Angehörigen die Opfer und der Arzt bzw. Therapeut der Retter.
Diese beiden Modelle können auch zeitlich versetzt hintereinander auftreten.
Alle drei Modelle haben eines gemeinsam: Schuld ist immer ein anderer.
Ziel der behandelnden Fachkräfte ist es natürlich, in diese Triade gar nicht einzusteigen, sondern Prozesse anzustoßen und zu fördern, in denen jeder Beteiligte seine jeweilige Opfer- und Täterschaft erkennt, akzeptiert und lernt, die Verantwortung für sein Tun und Lassen zu übernehmen. Die Erwartung Verändere Du Dich, damit es mir besser geht! verändert sich im Laufe des Therapieprozesses in die Haltung Was kann ich tun, damit es mir besser geht? An die Stelle eines selbstzerstörerischen Altruismus tritt ein verantwortungsbewusster Egoismus, oder besser gesagt eine Selbstfürsorge in Eigenverantwortung.
"Zur Beratung ziehen wir andere hinzu bei
wichtigen Entscheidungen, wenn wir uns
allein die rechte Erkenntnis nicht zutrauen.
Die Beratung gilt auch nicht Zielen, sondern
Mitteln (...), wie und durch welche Mittel es
(das Ziel) verwirklicht wird."
Aristoteles
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